Tinchen ist jeden Samstag auf dem Flohmarkt und sucht nach einem Schatz. Eine alte Frau schenkt ihr eine Handtasche,
die dem Mädchen nicht sonderlich gefällt. Also nimmt Tinchen sich vor, sie an der nächsten Ecke zu verlieren. Doch Tinchen
irrt - diese Handtasche lässt sich nicht verlieren …
Plötzlich befindet sich Tinchen tief unten im Abgrund der Hand-tasche, die nun aus ihrer Perspektive ihr noch größer als ein Palast erscheint. Sie kämpft sich, mit den unterschiedlichsten Inhalten einer geheimnisvollen Handtasche durch viele Fächer hindurch, um den Schatz zu finden, nach dem sie sich schon
so lange sehnt …

Heute ist Samstag und für Tinchen wieder einmal Flohmarkttag. Der Flohmarkt ist von Tinchens Wohnung aus gleich um die nächste Ecke. Sie liebt drei Sachen am Allermeisten: Ihren Talisman, ihre neuen roten Lackschuhe und Flohmärkte. Als sie drei Jahre alt war, also genau vor zwei Jahren, hat sie von ihrem Großvater einen silbernen Bärenanhänger als Kette geschenkt bekommen. Er sagte ihr damals: „Das ist mein Talisman, den habe ich von meinen Großvater, als ich drei Jahre alt war, geschenkt bekommen, nun schenke ich ihn dir, damit du wie ich, ein Leben lang Glück haben wirst.“ Ein Talisman bringt Glück, davon war Tinchen seitdem total überzeugt. Heute ist für Tinchen der perfekte Tag, um auf Schatzsuche zu gehen, weil auch ihre Mama nach langem Betteln ihr erlaubt hat, dass sie ihre neuen roten Lackschuhe anziehen darf. „Du bist die Allerbeste!“ ruft Tinchen ihr noch zu und schon ist sie weg.
 
Tinchen schlendert selig mit ihren leuchtend roten Lackschuhen entlang der Flohmarkttische und stöbert mal da und mal dort in alten, staubigen und etwas muffig riechenden Sachen, in der Hoffnung einen Schatz, der nur für sie allein bestimmt ist, zu entdecken.

„Was suchst du denn mein Kind?“ fragt plötzlich eine dunkle Stimme. Tinchen war so tief in ihren Schatzgedanken versunken und zuckt wie vom Donner gerührt zusammen, als sie die dunkle Stimme hört. Sie schaut nach oben und erblickt eine uralte und runzlige Frau mit mehreren goldenen Ketten um den Hals und mit prunkvollen roten und violetten Ringen an den Fingern. ,Die ist bestimmt 100 Jahre alt!‘ denkt Tinchen voller Vorurteile, vielleicht auch weil sie den Schreck noch in den Knochen spürt. Sie kann sich nicht erinnern, diese Flohmarkt-Händlerin schon einmal auf dem Flohmarkt gesehen zu haben. Die Frau ist knallbunt gekleidet und ihre Haare sind mit einem blumigen nach hinten gebundenen Kopftuch bedeckt. Nur eine schwarze lockige Strähne hängt am linken Ohr spiralförmig herab, so als hätte sie diese Locke extra so platziert und eingedreht. Ihre großen Ohren spickeln aufgrund des Kopftuches gerade mal ein Drittel heraus. ,Sieht total ohrläppig aus!‘ denkt Tinchen darüber höchst amüsiert. Zusätzlich baumelt und schaukelt, wenn die Frau sich bewegt, an einem Ohrläppchen ein Ohrring mit drei lila Edelsteinen hin und her. ,So eine alte Schachtel mit nur einem Ohrring!‘ denkt Tinchen verurteilend weiter. Die Frau bekommt plötzlich eine tiefe Furche auf der Stirn. Tinchen spürt ein seltsames Gefühl im Bauch. ,Kann sie meine Gedanken lesen?‘ denkt Tinchen erschrocken. Ihre Mama sagt oft zu ihr, sie solle erst den Menschen eine Chance geben, bevor sie schlecht über jene denke. „Ohne Vorurteil hast du einen Vorteil im Leben, Tinchen!“ lautet die Litanei ihrer Mama. Tinchen spürt zum ersten Mal, dass ihre Mama Recht hat. – Zugeben würde sie es ihr gegenüber jedoch nie. ,Stimmt ja, so alt wie eine alte Schachtel ist sie nicht, aber so um die 50 Jahre wird sie schon sein.‘ korrigiert Tinchen ihre Gedanken und schon wird die Furche der alten Frau etwas glatter und sie lächelt Tinchen wieder an. Tinchen stellt fest: ,Wie schön sie ist, wenn sie lächelt und der Ohrring steht ihr irgendwie auch!‘. – „Ich suche einen Schatz!“ sagt Tinchen daraufhin freundlich. „Soso, einen Schatz suchst du also? – Komm näher, ich habe etwas ganz besonderes für dich!“ Während die alte Frau in einem zerrissenen Pappkarton wühlt, der durch Feuchtigkeit schon etwas aufgeweicht und zerknautscht ist, kommt es Tinchen so vor, als ob die Furche auf ihrer Stirn sich wieder furchiger zusammenrollt und die drei Edelsteine durch das Sonnenlicht noch mehr als vorhin strahlen. Schon nach kurzer Zeit zieht sie zwischen alten Schuhen, Kerzenständern und uraltem Gerümpel eine runzlige, rote lederne Handtasche heraus. „Bitteschön, hier hast du deinen Schatz!“ sagt die alte Frau, mit einer Gewissheit in der Stimme, den richtigen Schatz für Tinchen gefunden zu haben. ,Das soll mein Schatz sein?‘ denkt Tinchen verwirrt und etwas abgeneigt. Dennoch nimmt sie wie verzaubert die Handtasche entgegen. Sie bedankt sich noch schnell wie es sich gehört bei der Frau, die ihr jetzt doch wieder irgendwie unheimlich erscheint und verschwindet mit der alten Handtasche zwischen den anderen Flohmarktbesuchern.

Nach dieser seltsamen Begegnung beschließt sie, ihre Schatzsuche auf dem Flohmarkt für heute zu beenden und diese komische Handtasche einfach an der nächsten Ecke zu verlieren. Was Tinchen aber nicht ahnt: Diese Handtasche lässt sich nicht einfach so verlieren …


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